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Animal Beauty

Es ist spät. Es ist kalt. Punkt 22 Uhr hat das Fernheizwerk die Arbeit eingestellt. Nicht, dass es vor 22 Uhr viel wärmer gewesen wäre, aber jetzt 3 Uhr früh werden die Heizkörper deutlich kälter. Unser Glück ist, das unser Wohnblock in unmittelbarer Nähe des Fernheizwerkes liegt. Die Heizkörper in unserem ex-jugoslawischen Wohnblock haben keine Ventile, und verspotten die autonome Selbstverwaltung. Wenn uns zu heiß ist, reissen wir die Fenster auf, wenn uns zu kalt ist, heizen wir mit dem Elektroherd. Der Erstfall tritt aber nie ein. Der Heizwert des Backrohres unseres Elektroherdes ist limitiert und die Überbelastung fordert ihren Tribut in regelmäßigen Stromausfällen. In unserer Wohngemeinschaft hat der Fernseher Priorität. Der läuft die ganze Nacht. In zwei Stunden wird das Fernheizwerk seine Arbeit langsam wieder aufnehmen, aber bis der Schwall heißen Dampfes bei uns ankommt und die Heizkörper wieder aufwärmt, vergehen erfahrungsgemäß noch zwei Stunden. Auf der Hälfte der empfangbaren Kanäle laufen schlechte Pornos und patriotische Musikvideos, auf den Rest verteilen sich zwanzig Jahre alte sozialistische Dokumentationen und die regelmässigen Wiederholungen der Juwelen der jugoslawischen Kinematographie. Das Einzige was einem die Wohnung warm erscheinen lässt, ist ein ausgiebiger Nachtspaziergang. Unser Wohnblock ist Teil einer grösseren Siedlung, welche um einen Supermarkt und einen freien Marktplatz gruppiert ist. Der Supermarkt und der freie Markt sind in der Mitte eines freien Feldes, von der Grösse von vier Fussballplätzen. Rund um das Feld sind Parkplätze und dann unterschiedlich grosse Wohnblöcke. Zwischen zwei Wohnblöcken sind Garagen, und auf den Garagen sind immer die letzten politischen Trends in der lokalen Version der Street Art ablesbar.

Am Rande des Feldes sind auch die Müllcontainer, wo ich auch das furchtbarste aller Graffiti’s gesehen habe. Auf einem der Müllcontainer war gross Mahlzeit gesprayt worden. An guten Tagen versuche ich mich selbst von der Empathie und Freundlichkeit der Autoren – den Roma gegenüber zu überzeugen, welche mehrmals bei Tag und Nacht die Müllcontainer nach Brauchbaren durchwühlen. Meist kommen sie mit Pferdefuhren, und im Durchwühlen der Container stehen sie in direkter Konkurrenz zu den hunderten Katzen unserer Siedlung. In der Mitte des Platzes, rund um den Supermarkt versuchen streunende Hunderudel ihr Glück. Seit der Supermarkt 24 Stunden täglich geöffnet ist, herrscht stets ein reges Treiben, und die Hunde üben sich in bedrohlichen Posen. Ihre Organisiertheit und die Bereitschaft zum Kampf wird etwas unfreiwillig mit Leckereien der Anwohner belohnt. Im Gegensatz dazu, springen die Katzen in die Container, suchen selbstständig nach Essbarem, und werden alle paar Stunden von den Roma vertrieben.

Die Katzen als konkurrierende Einzelkämpferinnen sind meist in schlechter Verfassung und gezeichnet vom Überlebenskampf. Wenn die Katzen, oder eine Katze etwas aus dem Container fischt, dann beginnt zwischen den Katzen der Verteilungskampf, was meist die Aufmerksamkeit des Hunderudels weckt, das sich daraufhin auch einmischt und in achtzig Prozent der Fälle die Beute davonträgt. Meist sitzen also mehrere Katzen in den Containern, verspeisen ihre Beute und hoffen, dass die Roma nicht so schnell wiederkommen. Oft sitzen aber auch die Roma in den Containern, wenn zum Beispiel eine wertvolle Ressource gefunden wurde, welche nicht gleich mit dem Pferdefuhrwerk abtransportiert werden kann, wird die Stellung gehalten, bis das leere Fuhrwerk aus der Romasiedlung hinter dem Fernheizwerk wieder bereitsteht. Das Fernheizwerk ist die letzte in der Stadt noch arbeitende Fabrik. Zumindest für vier bis fünf Monate im Jahr. Im Rest des Jahres

ist die Fabrik geschlossen und Leben kommt höchstens auf, wenn sich mehr oder weniger regelmässig verzweifelte Menschen von dem temporär inaktiven Schornstein stürzen möchten, und das fallweise auch tun. Bei jedem Spaziergang in der Nacht gehe ich in den Supermarkt um mich aufzuwärmen. Ihre Offenheit ist dem Umstand zu verdanken, dass es billiger kommt die Angestellten zu bezahlen, als täglich den Schaden von Einbrüchen zu reparieren. Geld wechselt kaum den Tresen, denn die meisten Einkäufe werden in kleinen Büchern vermerkt und einige Monate später im Nachhinein bezahlt. Den Hunden zolle ich in Form von Würsten den ihnen gebührenden Respekt. Sie danken es mir mit Freundlichkeit und sie erkennen mich regelmässig wieder. Selbst Vucko, der Hund eines Freundes von mir, der für das Rudel erstaunlicherweise seinen Herrn verlassen hat, und anfangs wahrscheinlich aus Anpassungsdruck im Rudel, als einer der bedrohlichsten schien, ist mittlerweile freundlich wie eh und je. Vucko der kämperische Hund, ist mir mittlerweile auch sympathischer als mein apathischer Freund. Ich verlasse das mir freundlich gesinnte Rudel und gehe entlang dem Container, an den Katzen vorbei zu meinem Wohnhaus zurück. Selbst in der Nacht ist unsere Siedlung ein Ort welcher voll von Überraschungen steckt und wo hinter jeder Ecke freundlich und unfreundlich gesinnte Menschen und Tiere stecken können. Nur die letzten Meter, gehe ich routiniert, etwas durchgefroren und in Gedanken an die gefährliche Desorganisation der Katzen versunken, zum Eingangsbereich. Drehe den Schlüssel und plötzlich steht ein ausgewachsenes Schwein vor mir. Mitten im Stiegenhaus, zwischen Aufzug und Postkästchen. Das Schwein blieb ruhig, und schien von meiner Anwesenheit, weder überrascht noch bedroht. Meine antrainierte Coolness, genauer meine permanente latente Antizipation aller möglichen Eventualitäten im öffentlichen Raum, aufbietend beschloss ich mich im breiten Bogen, um das Schwein herum, an der Wand entlang zum Lift zu bewegen. Ich konnte keinen Blick von

dem Schwein abwenden, und hoffte, dass meine Erinnerungen an die Friedfertigkeit von Schweinen, nicht Teil meiner idealisierten Kindheit am Bauernhof wären. In dem Augenblick, als ich bei dem Schwein ein Halsband entdeckte, machte das Schwein einen Ruck in meine Richtung. Ich presste mich mit aller Kraft gegen die Ziegelwand und war wie erleichtert als aus der gegenüberliegenden Tür zum Fahrradraum einer meiner Nachbarn kam. Seine erst wenige Wochen zurückliegende Kriegserfahrung machte in Anbetracht dieser Situation Mut. Wortlos, legte er dem Schwein eine Hundeleine an und machte sich auf den Weg nach draußen. Sprachlos wie kaum jemals zuvor, blickte ich ihnen ungläubig nach. Mich überraschten mehrere Faktoren in dieser Situation. Ich mochte den Nachbarn nicht. Als das Schwein, und ich meine jetzt nicht den Nachbarn, vor mir stand, war das Auftauchen des menschlichen Nachbarn, und wahrscheinlich seine Kriegserfahrenheit meine Erleichterung. Er und das Schwein verliessen relativ wohlgesittet, zwar grußlos, aber ohne grossen Lärm und Spuren das Haus. Ihre offensichtliche Routine im verlassen des Hauses hat mich beeindruckt. Ich witterte hinter jeder verschlossenen Wohnungstür geheime Allianzen und stürzte zu meinem Mitbewohner um ihm von meinem Erlebnis zu berichten. Die grundsätzlich eher laute Geräuschkulisse in diesem Wohnhaus, schien jetzt um einen Bereich klarer geworden zu sein. Was meinen Mitbewohner am ehesten bedrückte, war das die traditionelle Schlachtzeit eigentlich schon am Ende war, obwohl er eigentlich wenig überrascht die Nachricht aufnahm. Sein Staunen hielt sich in Grenzen, und er schien eher den Würsten, dem Speck und Grammeln nachzutrauern, als sich an der Tatsache zu erfreuen, dass die letzte Domäne der relativen Normalität, das traute Heim, gefallen ist. Dort, wo mit dem Backrohr geheizt wird bis die Sicherung rausfliegt und das Fernsehen einem den Eindruck vermitteln möchte, das alles in bester Ordnung sei.

Die Romasiedlung heißt Klein London, die Stadt heißt Pancevo, die ehemals autonome Provinz heißt Vojvodina und liegt in einem Land das weder über seine Größe noch über den genauen Namen bescheid weiß, und im Verborgenen Krieg führt. Seit Krieg ist, haben die Läden die ganze Nacht offen, haben die Fabriken ihre Produktion eingestellt, sind bei Menschen wie Tieren animalische Züge zum Vorschein gekommen und die Gesellschaft ist aus den Fugen geraten. Zahme Haustiere sind ausgesetzt worden und haben den öffentlichen urbanen Raum strategisch in Besitz genommen. Um dort zu überleben, müssen sie kollektiv und organisiert die Zähne zeigen.

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